„Wir weigern uns, Feinde zu sein“

veröffentlicht 15.06.2024, Kirche im Evangelischen Dekanat Büdinger Land

Seit 30 Jahren liegt Daoud Nassar in einem Rechtsstreit mit dem Staat Israel, der Nassars Familie ihr Land wegnehmen will. Am Wolfgang-Ernst-Gymnasium in Büdingen erzählt Nassar, wie er auf Anfeindungen und Schikanen reagiert: mit dem Friedensprojekt „Tent of Nations“.

„Was“, fragt Daoud Nassar die Schüler im Foyer des Büdinger Wolfgang-Ernst-Gymnasiums, „hättet ihr getan?“ Einen Blanko-Scheck hat der Staat Israel dem palästinensischen Christen Nassar für das 42 Hektar große Stück Land im Westjordanland geboten, das seine Familie seit Jahrzehnten bewirtschaftet und bewohnt. „Soll man das annehmen?“, fragt Nassar und schaut in die Runde. Die Frage provoziert und lockt einige der 120 Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen zehn und elf aus der Reserve. „Ich hätte das Geld genommen und mir woanders ein schönes Leben gemacht“, ruft einer. „Aber damit würde man doch aufgeben“, entgegnet eine Schülerin - und ist mit dieser Äußerung ganz bei Daoud Nassar, der seit über 30 Jahren mit dem Staat Israel in einem Rechtsstreit liegt, weil dieser versucht, Nassars Familie zu enteignen und ihr das Land wegzunehmen. Der Blankoscheck - eine Schikane von vielen.

Aufgeben ist keine Option für Daoud Nassar. „Das Erbe des Vaters kann man nicht verkaufen“, sagt er. Den Schmerz und die Frustration über die Anfeindungen und Zerstörungen, die sie ertragen müssen, verwandeln er und seine Familie in positive Energie und leisten gewaltlosen Widerstand. Ihr Motto: Wir weigern uns, Feinde zu sein.

Gut eineinhalb Stunden fesselt und berührt Daoud Nassar die Büdinger Schülerinnen und Schüler mit seiner Geschichte vom Leben unter Besatzung in einem zerrissenen Land, vom friedlichen Kampf um den Weinberg, den sein Großvater 1916 etwa acht Kilometer südwestlich von Bethlehem gekauft hat und den er, Daoud, zu einem „Garden of all Nations“ gemacht hat.

Das Westjordanland gehört wie der Gazastreifen, Ostjerusalem und die Golanhöhen zu den von Israel besetzten Palästinensischen Autonomiegebieten. Das Land der Familie Nassar ist umgeben von fünf israelischen Siedlungen, die größte hat über 70 000 Einwohner. Weil der Großvater das vor über hundert Jahren erworbene Land im Osmanischen Reich registrieren ließ und Steuern zahlte, konnte die Familie den Besitz nachweisen, als Israel den Weinberg 1991 zu Staatsgebiet erklären wollte. Der Rechtsstreit darum dauert an.

Die Schwierigkeiten, die der israelische Staat der Familie Nassar macht, um sie von ihrem Land zu vertreiben, scheinen unerschöpflich. „Wir haben viele Geschichten zu erzählen, aber wir sind immer noch da“, bekräftigt Daoud Nassar. Er darf auf seinem Land keine Gebäude errichten, das Leben findet in Höhlen und unterirdischen Wohnungen ohne Infrastruktur statt. Wasser sammelt die Familie in selbst ausgehobenen Zisternen, Solarzellen erzeugen Strom. Offene Anfeindungen, Bedrohungen und die Zerstörung von Anpflanzungen durch die Siedlerbewegung sind weitere Methoden, sie einzuschüchtern. Tausende Oliven- und Obstbäume wurden vernichtet, Schäden von über 200000 Euro verursacht.

Jammern allerdings sei keine Lösung, so Daoud Nassar. Er wolle kein Opfer sein. Und er weigere sich, zu hassen. Sein Weg: Das Negative mit dem Positiven überwinden. „Ich kann etwas tun, auch wenn die Situation ausweglos scheint.“ Und so ist er zum Friedensstifter im eigenen Land geworden, hat das Projekt „Tent of Nations“ gegründet, eine Jugendbegegnungsstätte, die bis zum 7. Oktober vergangenen Jahres jährlich von 13000 jungen Gästen aus 40 Nationen besucht wurde. Volunteers, Freiwillige, helfen bei der der Aprikosen-, Mandel- oder Feigenernte und erleben im Camp Gemeinschaft, erfahren, dass es sich lohnt, für seine Überzeugungen und Ideale einzustehen.

„Frieden muss von unten wachsen, wie ein Olivenbaum“, findet Daoud Nassar. „Besucht uns mal“, ruft er den Büdinger Schülern zu. „Ich lade Euch ein, mit uns zu denken.“ Er wisse nicht, wie es weitergehen wird. Das wisse man in der Westbank nie. Weite Teile sind unter israelischer Kontrolle. Straßensperren und sogenannte Checkpoints schränken die Bewegungsfreiheit ein. „Man kann nichts planen, man weiß nie, wie die Lage sich entwickelt.“ Der Alltag ist zermürbend und gefährlich. 27 Stunden benötigten Jihan und Daoud Nassar, um nach Köln zu gelangen. Aber er gibt die Hoffnung nicht auf: „Man muss heute etwas tun, damit morgen ein guter Tag wird.“

Daoud und Jihan sind für mehrere Tage in Deutschland unterwegs. Sie wollen auf ihr Projekt und ihre Lage aufmerksam machen und werben um Unterstützung. Den Besuch am Wolfgang Ernst Gymnasium in Büdingen hat Dr. Andreas Goetze vermittelt. Der evangelische Pfarrer ist Referent für den interreligiösen Dialog im Zentrum Ökumene in Frankfurt, dem „Außenministerium“ der beiden Landeskirchen EKHN und EKKW, wie er sagte. Goetze ist seit 30 Jahren mit der Familie Nassar befreundet und unterhält persönliche Kontakte ins WEG. So schließt sich der Kreis. (jub)