Sein Vortrag hat betroffen gemacht, aber er weckt auch Hoffnung. Und so entlässt Dr. Wolfgang Kessler sein Publikum mit einem ermutigenden Zitat der amerikanischen Lyrikerin Amanda Gorman in die Nacht: „Es gibt immer Licht, wenn wir nur mutig genug sind, es zu sehen, wenn wir nur mutig genug sind, es zu sein.“ Gut eineinhalb Stunden hat Kessler zuvor über „Das Ende des billigen Wohlstands“, so der Titel seines aktuellen Buches, referiert und erörtert, wie ein neues Wirtschaftsmodell aussehen könnte, das nicht auf zügellosem Wachstum und Ausbeutung fußt und trotzdem Wohlstand sichert.
Kesslers Vortrag ist der Auftakt zu einem neuen Gesprächsforum des Evangelischen Dekanates Büdinger Land, das sich unter dem Titel „Talk am Turm“ regelmäßig gesellschaftlichen, politischen und religiösen Themen widmen will. Dass die Sorge um die Zukunft und den Zustand der Welt die Menschen umtreibt, zeigt sich am Zuspruch, den die Veranstaltung erfährt: Der Johanniter-Saal im Haus der Kirche und Diakonie in der Niddaer Bahnhofstraße ist binnen Minuten brechend voll.
Die zaghafte Erwartung der Initiatoren Rainer Böhm, Hans Hamrich und Konrad Schulz, dass sich die drei Stuhlreihen, die sie gestellt haben, hoffentlich füllen werden, ist rasch übertroffen. Von überall im Haus schleppen die drei Pfarrer i. R. Stühle herbei, damit alle Interessierten – am Ende sind es mehr als 60 – sitzen können. „Kirche kann Schlimmeres passieren, als Stühle holen zu müssen“, konstatiert lachend der stellvertretende Dekan Ulrich Bauersfeld in seiner kurzen Begrüßung.
Der Referent Wolfgang Kessler ist ein preisgekrönter Ökonom und Journalist, der über ethische Fragestellungen in seiner katholisch geprägten Jugend zum Studium der Wirtschaftswissenschaften gekommen ist. Seine Bestandsaufnahme unserer Zeit fällt erwartungsgemäß nüchtern aus: Klimakrise, Pandemie, Inflation und Kriege führten uns gerade die Probleme vor Augen, die jahrelang unter den Teppich gekehrt worden seien, so Kessler: die Schere zwischen Arm und Reich, die immer weiter auseinandergeht, der Pflegenotstand in Kliniken und Heimen, der wachsende Ressourcenverbrauch, auf dem unser Wohlstand beruht.
Das Modell von Wachstum und Wohlstand aus dem vorigen Jahrhundert trage nicht mehr. Kesslers Fazit: „Wir leben in einer verzweifelten Überganggesellschaft. Jeder krallt sich an das, was er noch hat, weil er fürchtet, noch mehr zu verlieren.“ Das erzeuge eine Stimmung, wie wir sie gerade erleben, mit Frust und Aggression. Als Beispiel nennt er die lautstarken Bauernproteste. Doch statt um Agrardiesel und Kfz-Steuer zu streiten, müsste vielmehr über eine zukunftsfähige und ökologische Landwirtschaft diskutiert werden, beispielsweise über eine Tierwohlabgabe, die zurück an die Landwirte gegeben wird, damit diese in die Modernisierung ihrer Ställe investieren können.
Es sei nicht mehr zu leugnen, dass sich unser Leben und unser Konsum grundlegend ändern müssten. Dann sei eine Zukunft in Wohlstand und Sicherheit möglich. Kessler nennt Beispiele aus dem europäischen Ausland, die zeigen, wie man Wohlstand auf eine neue Grundlage stellen kann. Um Veränderungen durchzusetzen, brauche es den „Druck von unten“ und die Bereitschaft, diese Veränderungen zu akzeptieren. „Das funktioniert, wenn es gerecht ist“, ist Kessler überzeugt.
Eine ganze Reihe von Vorschlägen für mehr Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit führt der Referent an: ein Sozialstaat ohne Rendite, in dem öffentliche Aufgaben wie Wohnungsbau und Gesundheitsschutz keine Gewinne abwerfen müssen, Steuern auf Krisengewinne, ein höherer Spitzensteuersatz und eine höhere Erbschaftssteuer auf Millionenerbe, gerechte Gesundheits- und Rentensysteme ohne Privilegien, Kreislaufwirtschaft auf Grundlage erneuerbarer Energien sowie ein globaler Mindestlohn von einem Euro pro Stunde – „der würde das Leben von einer Milliarde Menschen verbessern“.
Das Alte funktioniere nicht mehr und das Neue, so Kessler, sei noch nicht zu sehen. Das verunsichere die Menschen. „Was wir brauchen, ist ein neuer Spirit, ein neuer Glaube an die Zukunft“. (jub)