„‘s ist leider Krieg“ – mit den Anfangsworten eines Gedichts von Matthias Claudius aus dem Jahr 1778 hatte Dr. Peter Scherle seinen Vortrag in der jüngsten Veranstaltung der Reihe „Talk am Turm“ des Evangelischen Dekanats Büdinger Land überschrieben. „Das alte Leben ist vorbei“, sagte Scherle angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und des Hamas-Israel-Krieges. „Es gibt keine Zuckerwattewelt. Man kann sich nicht rausnehmen und dann wird alles gut sein, sondern man muss wie Gott reingehen in die Gewalt und schauen, wie man trotzdem gut leben kann“, so Scherle.
Es waren Sätze von großer Wucht, die der evangelische Theologe im Margaretha-Pistorius-Haus in Nidda sagte. Das Gros seiner Zuhörer waren Pfarrerinnen und Pfarrer. Sie dürften nichts anderes von dem profilierten Theologen erwartet habe. Scherle hat von 2000 bis 2020 das Theologische Seminar in Herborn geleitet, die Ausbildungsstätte der Pfarrerinnen und Pfarrer in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN). In dieser Funktion habe er Generationen von Pfarrern geprägt und als „geistlicher Visionär“ Spuren in der EKHN hinterlassen, sagte Hans Hamrich, einer der Initiatoren des Gesprächsformats „Talk am Turm“, in seiner Begrüßung.
Die aktuelle Lage stelle die evangelische Friedensethik vor Herausforderungen, so Scherle. Er betonte die hoch emotionalisiert geführten und polarisierenden Debatten über den russischen Angriffskrieg und den Hamas-Israel-Krieg seit dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober. Er verteidigte das Recht der Ukraine auf militärische Selbstverteidigung gegen den Bruch des Völkerrechts durch Russland und kritisierte die moralische Forderung nach gewaltfreiem Widerstand. Er warnte davor, Russland pauschal als „das Böse“ zu stigmatisieren, das führe „friedensethisch in die Sackgasse des ,Mythos der erlösenden Gewalt‘“. Das Fenster für Verhandlungen stehe dann offen, wenn Russland sein Kriegsziel nicht mehr erreichen könne und die Ukraine sich entweder selbst befreien kann oder internationale militärische Sicherheitsgarantieren erhält, die Russland dauerhaft abschrecken. Er nannte es „ein politisches Versagen des Westens, der Ukraine die dafür notwenigen militärischen Mittel oder Garantien bisher vorenthalten zu haben“. Es sei falsch, die Ukraine preiszugeben in der Hoffnung, dann sei Frieden. Der Krieg gegen die Ukraine sei auch ein Krieg gegen den Westen und gegen die Demokratie.
Die Angst vor einer atomaren Auseinandersetzung, vor Wohlstandsverlust und vor dem Zerbröseln der alten Weltordnung spitzte Scherle zu, indem er sagte: „Wir müssen lernen, in einer beschädigten Welt zu leben.“
„Was gibt ihnen Hoffnung?“, wandte sich eine Zuhörerin unvermittelt an Scherle und lenkte damit den Blick von großer Betroffenheit in Richtung Zuversicht: „Meine Hoffnung kann nicht durch Klimakrise oder Putin erschüttert werden“, sagte Scherle. „Nichts, was jetzt leidet, geht verloren. Gott vergisst nicht die Toten von Butscha. Er hält auch die unverwirklichten Leben in der Hand.“ (jub)